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[...] Die Phantasien, die das Wort "Archiv" heute bei vielen
Geisteswissenschaftlern weckt, haben weniger mit den existierenden Archiven
zu tun als mit den Theorien über das Archiv, die zur philosophischen
Hinterlassenschaft von Michel Foucault und Jacques Derrida gehören.
[...] Was findet den Weg ins Archiv, und was wird daraus ausgeschlossen,
um vielleicht in "andere" Archive zu wandern, die nicht so leicht
aufzufinden sind?
Solche Archivphantasien an konkreten Funden zu verdeutlichen ist das Verdienst
des jüngsten Heftes der Zeitschrift des Berliner Instituts für
Literaturforschung (Trajekte, Heft 10, 5. Jg., April 2005). Bewußt
als Enthüllungen werden einzelne Briefe erstmals veröffentlicht
und kommentiert, die unbekannte Episoden der Biographie ihrer Absender
oder Adressaten beleuchten. Jacob Taubes schreibt an einen befreundeten
Rabbiner in Jerusalem über die psychische Erkrankung einer Bekannten
und verwebt damit das Geständnis einer Liebesbeziehung zu Ingeborg
Bachmann. Es ist ein Brief, der wegen seines extrem persönlichen
Charakters, vielleicht wegen der Mischung von erotischer und religiöser
Sprache in normalen Archiven sekretiert würde.
Sigrid Weigel, die diesen Brief eindrucksvoll kommentiert, hat eine Biographie
über Ingeborg Bachmann geschrieben, bei deren Abfassung ihr die langjährige
Beziehung zwischen dem Berliner Philosophieprofessor und Ingeborg Bachmann
unbekannt war. Sie lernten sich zwischen April 1963 und Ende 1965 kennen,
als sich Ingeborg Bachmann mit Unterbrechungen in Berlin aufhielt. In
dieser Zeit machten sie gelegentlich Spaziergänge in Dahlem, und
Ingeborg Bachmann besuchte auch das eine oder andere der religionsgeschichtlichen
Seminare von Taubes, die er zusammen mit dem Mandäerspezialisten
Macuch oder dem evangelischen Theologen Ulrich Wilckens, dem späteren
Bischof, bestritt.
Der Brief von Taubes stammt aus dem Jahr 1981, sieben Jahre nach ihrem
und sechs Jahre vor seinem Tod. Vielleicht handelt es sich, ungewöhnlich
genug, um die einzige Stelle, an der er über seine Liason mit Ingeborg
Bachmann berichtet hat. Sie ist, in ihrer gedrängten Kürze,
von einer solchen Emphase, daß man in dem Brief eine erste und letzte
Mitteilung sehen möchte, die Überlieferung einer Geschichte,
die sonst nirgends Niederschlag gefunden hat: "Ich war in einer Liasion
mit der kraftvollsten deutschen Dichterin unserer Generation, und wir
gingen zur Hölle hinab und zum Himmel hinauf in Berlin, Klagenfurt,
in Prag und drei Monate in Rom", heißt es in dem englisch geschriebenen
Brief.
Dieser einzige Brief fügt aber nichtnur dem Bild Ingeborg Bachmanns
neue Züge hinzu, auch Jacob Taubes, der unendlich viele Menschen
kannte, wird plötzlich auch als Briefschreiber interessant. [...]
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[...] Eines fällt an der Broschüre sogleich auf: ihr Interesse
an Archivalien und noch nicht in Archiv eingegangenen Hinterlassenschaften
aus Privatbesitz steht in deutlicher Spannung zu der berühmten These
des Gewährsmannes Foucault vom "Verschwinden des Autors".
[...]
Gleich der erste Brief, aus dem Nachlass des Philosophen und Judaisten
Jacob Taubes (1923-1987) gezogen, demonstriert das eindrucksvoll. Taubes
hat ihn im Jahr 1981 an den befreundeten Talmudgelehrten und Rabbiner
Aharon Agus (1943-2002) in Jerusalem adressiert, handschriftlich und in
einem Englisch verfasst, das immer wieder von hebräischen Schriftzeichen
und Zitaten durchsetzt ist. Der Brief handelt nicht nur von einer letzten
Geliebten des Verfassers in Jerusalem, deren Name aus Gründen des
Personenschutzes nur mit dem Anfangsbuchstaben wiedergegeben ist, er bestätigt
zugleich ein Gerücht der Berliner "chronique scandaleuse",
demzufolge Taubes eine längere Affäre mit der Schriftstellerin
Ingeborg Bachmann hatte. "I was in a liaison with the most powerful
German poetress of our generation and we went down to hells and up to
heavens in Berlin, in Klagenfurt in Prga and three months in Rome."
Der Nachlass von Ingeborg Bachmann in der Handschriftenabteilung der Wiener
Nationalbibliothek ist durch ihre Erben zum großen Teilen, darunter
die private Korrespondenz, gesperrt. Die biographische Rekonstruktion
der Liaison wird noch auf Jahrzehnte im Nachlass der Dichterin nicht auf
Funde hoffen dürfen. [...]
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