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Frankfurter Rundschau  
05. August 1999   Wer wohnte im inneren Wien?
  Die Tücken der Ingeborg-Bachmann-Biografien
   
    Die neue rororo-Monografie über Ingeborg Bachmann ist bereits der vierte Versuch, Werk und Person der 1973 in Rom in Alter von 47 Jahren gestorbenen österreichischen Dichterin einem Lesepublikum vorzustellen. Er scheint leichter, weil er sich auf umfänglicheres Quellenmaterial und das wachsende kritische Verständnis stützen kann gegenüber dem Werk einer Nachkriegsautorin, deren Kindheits- und Jugendjahre in die Nazidiktatur fallen.
Der Unfalltod von Ingeborg Bachmann in Rom hat seit je für Spekulationen gesorgt, obwohl die Umstände genau protokolliert sind. Neuerdings wird die Dichterin als Selbstmörderin neben Virginia Woolf und Sylvia Plath eingereiht.
Von der Monografie des Salzburger Germanisten Hans Höller durfte man neue Aufschlüsse über biografische Fakten erwarten, auch Interpretationsmodelle zu einzelnen Werken, die über die bekannten hinausgehen. Tatsächlich wurde Höller von den Erben Bachmann Einblick in ein Tagebuch aus dem Jahr 1945 gewährt, dem er das erste Kapitel der Monografie, Das wird der schönste Sommer bleiben, widmet. Warum die Erben dieses Tagebuch erst jetzt herausrücken, bleibt dunkel. Desgleichen, ob die Freigabe ein einmalig gewährtes Privileg ist, oder ob das Dokument von nun an der Forschung zur Verfügung stehen wird.
Höller fand in dem Tagebuch jenes "Grundmuster traumatischer Geschichtserfahrung" wieder, dem seit je sein Forschungsinteresse gilt. Er hatte als erster in seinen Arbeiten über Ingeborg Bachmann diese Vorstellung entworfen, die von einem Zweig der dominanten Bachmann-Forschung zum Paradigma erhoben und in immer neuen Varianten weitergeschrieben wird.
Auf diesem "Grundmuster traumatischer Geschichtserfahrung" zeichnet sich nun überraschend ein bislang geheimgehaltenes Trauma ab. Es ist die fast beiläufige Mitteilung über den Vater Ingeborg Bachmanns, Matthias Bachmann, der schon seit den frühen dreißiger Jahren bis zum "Anschluß" 1938 der in Österreich verbotenen NSDAP angehörte und der sich 1939 im Alter von 41 Jahren bei Kriegsbeginn freiwillig zur Wehrmacht meldete. Ob dieser Entschluss patriotische Motive hatte oder ob er dazu diente, sich den Zumutungen des NS-Staates zu entziehen, diese Frage wird von Höller nicht gestellt.
Ingeborg Bachmann selbst hat nie etwas darüber verlauten lassen. Wie sehr sie an ihrem Schweigen getragen haben muß, ist einem Interview vom 24. Dezember 1971 zu entnehmen, in dem sie auf direkte Fragen nach ihrer Kindheit antwortet. Da ist von dem "bestimmten Moment" die Rede, der ihre "Kindheit zertrümmert" hat, vom "Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt", der "Brutalität", dem "Brüllen" eines "ganzen Heeres", das in ihr "stilles, friedliches Kärnten" kam.
Eine große Zahl von Exegeten hat sich diese Aussage zu eigen gemacht, auch das sentimentale Gerede von Ingeborg Bachmanns "Heimatvertreibung" hat hier seinen Ursprung. Bei Höller lesen wir den Satz: "Weil sie selber bewußt den Weg in den Dissens mit dem Hitlerregime ging, konnte sie später. . . den Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich als den bestimmten Moment eines lebensgeschichtlichen Bruchs verstehen."
Gewiß, Bachmanns Stigmen und Narben aus jenem fatalen Jahr 1938 sind real. Unstimmig ist nur, wie sie in Szene gesetzt sind. Sie brachte es einfach nicht über sich zu sagen, was damals wirklich geschehen war. Freud spricht in einem solchen Fall von "tendenziösen Erinnerungsfälschungen", die "den Zwecken der Verdrängung und Ersetzung von anstössigen und unliebsamen Eindrücken dienen".
Da die Erben neuerdings ihre Zensurrechte weniger streng ausüben als zu Zeiten der Werkausgabe in den siebziger Jahren, werden in der Monografie auch die beiden lebensgeschichtlich entscheidenden Liebesbeziehungen Bachmanns zu Paul Celan und zu Max Frisch in je einem Kapitel beleuchtet. Zum ersten Mal werden die "nicht mehr gutzumachenden persönlichen Verletzungen" und die von Max Frisch angerichtete "Zerstörung der Person" zur Sprache gebracht, die den Anfang ihrer Psychopharmaka-Abhängigkeit markieren.
Dass der unvollendete Romanzyklus Todesarten nicht zuletzt auf die Erfahrung des Liebesverrats durch Max Frisch zurückgeht, gleichwohl nicht "in einer persönlichen Abrechnung aufgeht", dürfte sich von selbst verstehen. Umgekehrt wird in der Monografie der biografische Adressat in dem frühen Prosawerk Briefe an Felician mit Vehemenz bestritten, obschon unleugbar hinter dem Geliebten Felician die idealisierte Gestalt des österreichischen Schriftstellers J. F. Perkonig erkennbar ist. Der "herzliebste Mann" ist nicht "die Kunst, ach die Kunst".
In dem Kapitel "Das fortdauernde innere Wien" entwirft Höller ein siebenseitiges Porträt des Wiener Nachkriegs-Literaturpapstes Hans Weigel und von dessen Liebschaft mit Ingeborg Bachmann. Sein Buch Unvollendete Symphonie von 1951 - ein peinlicher Altherren-Roman - wird dabei zum "dialogischen" Gegenstand in Bachmanns Roman Malina erklärt. Damit unterstützt Höller unbeabsichtigt Weigels Selbstaufwertung, der 1992 beim Neudruck seines Romans, Bachmanns literarischen Ruhm nutzte und öffentlich machte, daß seine Romanheldin seine "Kollegin Ingeborg Bachmann" sei. Ingeborg Bachmann war in Rangfragen der Literatur unerbittlich. Hans Weigel war kein Gegner, dem sie die Ehre einer literarischen Antwort hätte zuteil werden lassen.

——   Lauter Lücken   ——

So sind auch die folgenden Zitate von Höller aus der Sekundärliteratur, Ingeborg Bachmann habe als "Nachkomme aus der Tätergeneration" die "schmerzlichen, vom Juden Weigel verschwiegenen Erinnerungen" nachgeliefert, eher zwanghafte Verklettungen. Die wirklichen Hauptpersonen aus dem "fortdauernden ,inneren' Wien", die nach Bachmanns eigenen Worten damals das "Zentrum" ihres "Lebens" waren, Ilse Aichinger und deren Mutter, mit ihrer von den Nazis vernichteten und verstreuten Familie, kommen in der Monografie zu kurz. Der Name der Jüdin Bobby von Liebl, die für die junge Bachmann das Vorbild der schönen, intellektuellen Frau in der Wiener Nachkriegsgesellschaft verkörperte, und ihres Mannes Zeno, fehlen ganz. Klaus und Nanny Demus, eng befreundet mit Bachmann und Celan, bleiben ebenfalls unerwähnt. Diese Menschen waren Ingeborg Bachmanns "Wiener Kreis".
Solche Lücken erklären sich aus der von Höller gewählten Konzeption. Sein Bemühen gilt zuallererst dem Bachmannschen Werk als "Geschichte des Widerstands im Schreiben" unter dem "Geheimnis", das nunmehr offen zutage liegt. Nicht Neugier soll es auf sich ziehen, sondern das Mitgefühl vertiefen dafür, daß Ingeborg Bachmann in den getrennten, aber nicht wirklich geschiedenen Welten der Täter und der Opfer zu Hause war.
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
 
 
     Christine Koschel und Inge von Weidenbaum [1]
     
Forum-LinkKleine Bibliothek:   Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Biografie.
    (rororo monographie)

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[1] Veröffentlichung im Ingeborg-Bachmann-Forum mit freundlicher Genehmigung von © Christine Koschel und
  Inge von Weidenbaum.
  © Ricarda Berg, erstellt: Januar 2003, letzte Änderung: 15.01.2024
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