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| 20. Februar 2023 | Nie im Leben hab ich so viel geredet! | |||
| Mit achtzehn verliebte sich Ingeborg Bachmann in einen britischen Soldaten | ||||
| Es gibt Bücher, die sich wie Vermisstenanzeigen lesen, weil die
Spuren, die sie legen, bruchstückhaft sind und ins Ungewisse führen;
weil sie von Menschen erzählen, von denen, vor und nach dieser Erzählung,
nie wieder jemand etwas gehört hat: Ingeborg Bachmanns "Kriegstagebuch",
das sie schrieb, als sie achtzehn war, in den letzten Monaten des Zweiten
Weltkriegs in Klagenfurt und unmittelbar nach Kriegsende in Obervellach,
ist, von heute aus betrachtet, so eine Vermisstenanzeige. [...] Es ist dieser Jack Hamesh, mit dem Ingeborg Bachmann den ersten Sommer nach Kriegsende verbringen und in den sie sich verlieben wird: ein in Wien geborener Sohn jüdischer Eltern, der 1938, obwohl er schon 18 war, in einem Kindertransport nach England flüchten konnte und jetzt, 25-jährig, als englischer Besatzungssoldat nach Österreich zurückgekehrt ist. Im Juli 1946 bricht er nach Palästina auf, hofft trotzdem auf ein Wiedersehen und schreibt ihr Briefe, "in Freundschaft, dein Jäcki", heißt es im letzten von 1947. Dann brechen die Briefe ab oder sind verlorengegangen, so wie Ingeborg Bachmanns Antworten verlorengegangen sind, weil ein Jack Hamesh in Israel später nicht aufzufinden ist, auch nicht in der hebräischen Version des Familiennamens, "Fünfer". |
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| Julia Encke | ||||
| [© Nürnberger Nachrichten] 19.04.2010 |
Ein »Kriegstagebuch« der jungen Ingeborg Bachmann | |||
| Lesung in Nürnberg mit dem Bruder der Schriftstellerin | ||||
| Hieße die Schreiberin nicht Ingeborg Bachmann, hätte sie nicht vom Spätsommer 1944 bis zum Juni 1945 diese kurze Episode in ihrer Heimat Kärnten zwischen Kriegsende und Friedenssehnsucht festgehalten, das Tagebuch wäre ein Journal des Alltags und des Herzflimmerns wie es sich in unzähligen Schubladen verbarg. Tatsächlich aber bekommen diese Zeilen aus Bachmanns Feder ein verstörendes Gewicht, liest man sie in der Kombination mit den Briefen eben des Mannes, den das junge Mädchen/die junge Frau da so gefühlsverwirrt anschwärmt, der ihm Seele und Hirn durcheinanderbringt. | ||||
| Bernd Noack | ||||
| 17.04.2010 | Im Garten lesen, bis die Bomben kommen | |||
| Das Bild Ingeborg
Bachmanns, wie Jack Hamesh sie zum letzten Mal sah, wird immer bedrängender:
Er wünscht sich jetzt noch viel intensiver einen Satz von ihr, der
von einem Wiedersehen gesprochen hätte – „noch in der letzten
Sekunde auf der Hauptstraße als ich Dir weinend entgegen lief als
unser Wagen an Dir vorbeifuhr selbst Damals hast Du nichts davon gesagt”. Bachmanns Briefe – es können nur sehr wenige gewesen sein – sind bisher unauffindbar. Von Hameshs weiterem Leben wissen wir nichts. In seinem letzten Brief vom 16. Juli 1947 aus Tel Aviv schreibt er ausführlich vom zionistischen „Lebenskampf”. Seine Sätze, die von einem tragischen Schicksal künden, können Bachmann gar nicht erreichen: „Lass neue Brücken erstehen den mein Weg führt zu Dir liebe Inge und schreibe mir bitte nicht mehr dass das Freisein glücklich macht.” „Freisein”: Für Ingeborg Bachmann war das die große Losung. In ihren letzten Kärntner Tagen schreibt sie: „Ich kann doch nicht ewig hierbleiben und warten, warten. Für mich gibt’s hier nichts zu tun, nichts zu lernen.” Kurze Zeit später lernt sie in Wien Paul Celan kennen – einen Juden und einen Lyriker. Dieser Mann trifft nun den Nerv. |
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| Helmut Böttinger | ||||
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| 21.04.2010 | Späte Entdeckung: Ingeborg Bachmanns "Kriegstagebuch" | |||
| "Der schönste Sommer meines Lebens" | ||||
| Mit 18 verliebte sich Ingeborg Bachmann, Tochter aus (einer) Nazi-Familie, in einen österreichischen Juden. Ihr jetzt erst herausgegebenes "Kriegstagebuch" erzählt diese Geschichte, deren Bedeutung für Leben und Werk der Dichterin kaum überschätzt werden kann. | ||||
| Zweifellos eine literaturfähige Szene: Da verliebt sich eine Achtzehnjährige, Tochter aus einer Kärtner Nazi-Familie, im Juni 1945 in einen österreichischen Juden namens Jack Hamesh, der in englischer Uniform als Sieger in das Land seiner Kindheit zurückgekehrt ist. Nachdem er ihr die Hand geküsst hat, klettert die Maturantin nachts auf einen Apfelbaum, heult und denkt, „ich möchte mir nie mehr die Hand waschen“, wie sie ihrem Tagebuch anvertraut.
Die Wahrheit, lautet ein viel zitierter Satz Ingeborg Bachmanns, ist dem Menschen zumutbar. Im „Galicien“-Kapitel ihres „Franza“-Romans vertraute die Dichterin aber leider nicht der autobiografischen Wahrheit, sondern ihrer Fantasie. Im Roman ist der Besatzungsoffizier ein englischer Lord namens Percival Glyde, ebenso „lang“ wie „knochig“, nobel wie blass. Ein Jude ist der Oxford-Absolvent, der Franzas erste, mit „zehn Küssen“ besiegelte Liebe wird, offenkundig nicht. Der Roman blieb unvollendet, „das Manuskript“, teilte die Autorin ihrem Verleger mit, „kommt mir wie eine hilflose Anspielung auf etwas vor, das erst geschrieben werden muss“. [...] Wenige Tage später sind die beiden ein Paar: der österreichische Jude, der 1938 als Achtzehnjähriger mit einem Kindertransport nach England gelangte, und die junge Frau, die sich innerlich schon früh von der „völkischen Gemeinschaft“ distanziert hatte. „Und auf einmal war alles ganz anders“, vertraut sie dem Tagebuch am 14. Juni 1945 an. Es ist die Literatur, das Gespräch über bis eben noch verbotene Autoren wie Stefan Zweig, Schnitzler oder Thomas Mann, aber auch über sozialistische Klassiker, das für kurze Zeit zu einer Brücke wird über den Abgrund, der die beiden trennt. „Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde (…) Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden!“ Nachdem ihre Mutter sie vor dem Dorfklatsch gewarnt hat, notiert Ingeborg Bachmann, „ich werde mit ihm zehnmal auf und ab durch Vellach und durch Hermagot gehen, und wenn alles Kopf steht, jetzt erst recht. [...] Für Hamesh war die Begegnung mit Ingeborg Bachmann „kein bloßes Zusammentreffen“, wie er betont, „für mich war es ein Beweis dass trotz allem was auch über unseren beiden Völkern hereinbrach noch ein Weg gibt – den der Liebe und des Verständnisses.“ Seine Briefe sind die letzten, bewegenden Zeugnisse dieses kurzen Dialogs zwischen einem jüdischen Opfer und einem Kind aus dem Volk der Täter. Dem heutigen Leser erscheint er in der Tat „wie eine Nachkriegs-Utopie“ (Hans Höller), seine untergründige Bedeutung für Bachmanns Leben und Werk kann kaum überschätzt werden.“ |
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| Oliver Pfohlmann | ||||
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| © Ricarda Berg, erstellt: Januar 2024, letzte Änderung: 18.10.2025 http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg |
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