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Frankfurter Poetik-Vorlesungen
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Frankfurter Vorlesungen - Gastdozentur für Poetik (1959/60)
 
Probleme zeitgenössischer Dichtung
 
Im Wintersemester 1959/60 übernahm Ingeborg Bachmann als erste Dozentin die vom S. Fischer Verlag eingerichtete Gastdozentur für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Ingeborg Bachmann 1959
Von den ursprünglich vorgesehenen sechs Vorlesungen wurden zwischen November 1959 und Februar 1960 nur fünf gehalten.
Die Vorlesungsreihe stand unter dem Titel "Fragen zeitgenössischer Dichtung"; der spätere Titel "Probleme zeitgenössischer Dichtung" wurde von den Herausgeberinnen der Bachmann-Ausgabe aus den Hörfunkaufnahmen der vier Vorlesungen übernommen, die Ingeborg Bachmann vom 25. - 28. April 1960 im Zürcher Rundfunk für den Bayerischen Rundfunk München erstellte. [2]
  Ingeborg Bachmann (1959) [1]
Titel der Vorlesungen:  
     
I.  FRAGEN UND SCHEINFRAGEN  
II.  [ÜBER GEDICHTE]  
III.  DAS SCHREIBENDE ICH  
IV.  DER UMGANG MIT NAMEN  
V.  LITERATUR ALS UTOPIE  
     
     
Fragen und Scheinfragen
»[...] Für den Schriftsteller gibt es nämlich vor allem Fragen, die scheinbar außerhalb der literarischen liegen, scheinbar, weil ihre glatten Übersetzungen in die Sprache für die literarischen Probleme, mit denen man uns bekannt macht, sie uns als sekundär empfinden lassen; (...).
Mit einer neuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen, als könnte die Sprache selber die Erkenntnis eintreiben und die Erfahrung kundtun, die man nie gehabt hat. Wo nur mit ihr hantiert wird, damit sie sich neuartig anfühlt, rächt sie sich bald und entlarvt die Absicht. Eine neue Sprache muß eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt. (...) Für das, was er will, mit der Sprache will, hat sie sich noch nicht bewährt; er muß im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen ihre Zeichen fixieren und sie unter einem Ritual wieder lebendig machen, ihr eine Gangart geben, die sie nirgendwo sonst erhält außer im sprachlichen Kunstwerk.«
[Datum der ersten Vorlesung: 25. November 1959]
 
Über Gedichte
»[...] Sind wir nicht sehr empfindlich und sehr nüchtern geworden und bis zum Exzeß abweisend gegen Sprachrausch einerseits und konservatives Wortbiedermeier andererseits, dies affektiert Kranke und dies affektiert Gesunde, sind wir nicht im Begriff, uns von keinem mehr faszinieren zu lassen. Verlangen wir nicht vielleicht nichts mehr, als ein neues Rechtsverhältnis zwischen der Sprache und dem Menschen herzustellen.
(...) Die Literatur hinter uns, was ist denn das: von Herzwänden geschnittene Worte und tragisches Schweigen, und Brachfelder von zerredeten Worten und Tümpel von stinkendem, feigem Schweigen, und von zweierlei Art. Und immer winkt und verlockt beides, unser Anteil am Irrtum, der ist ja gesichert, aber unser Anteil an einer neuen Wahrheit, wo beginnt der?«
[Datum der zweiten Vorlesung: 9. Dezember 1959]
 
Das schreibende Ich
»[...] Die erste Veränderung, die das Ich erfahren hat, ist, daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält. Das heißt: nur so lange das Ich selber unbefragt blieb, solange man ihm zutraute, daß es seine Geschichte zu erzählen verstünde, war auch die Geschichte von ihm garantiert. Seit das Ich aufgelöst wird, sind Ich und Geschichte, Ich und Erzählung es nicht mehr. (...) Aber wird von der Dichtung nicht, trotz seiner unbestimmbaren Größe, seiner unbestimmbaren Lage immer wieder das Ich hervorgebracht werden, einer neuen Lage entsprechend, mit einem Halt an einem neuen Wort? Denn es gibt keine letzte Verlautbarung. Es ist das Wunder des Ich, daß es, wo immer es spricht, lebt; es kann nicht sterben - ob es geschlagen ist oder im Zweifel, ohne Glaubwürdigkeit und verstümmelt - dieses Ich ohne Gewähr! (...)
Und es wird seinen Triumph haben, heute wie eh und je - als Platzhalter der menschlichen Stimme.« [3]
 
Der Umgang mit Namen
»[...] In der neueren Literatur ist, was die Namen anbelangt, nun einiges geschehen, das nachdenklich macht, eine bewußte Schwächung der Namen und eine Unfähigkeit, Namen zu geben, obwohl es weiterhin Namen gibt und manchmal noch starke Namen. Und von beiden soll die Rede sein, von der Behauptung der Namen und vom Verkümmern der Namen, von ihrer Gefährdung und der Ursache dafür.
Als Kafkas Romane und Erzählungen berühmt wurden, wurden mit ihnen K. und Josef K. berühmt, zwei Gestalten, die nicht nur kaum auszumachen sind als Romangestalten im herkömmlichen Sinn, sondern die schon in ihrem Namen reduziert sind, mehr mit einer Chiffre als einem Namen ausgestattet sind. Es besteht nämlich ein eklatanter Zusammenhang zwischen dieser Namensverweigerung von seiten des Autors und der Verweigerung all dessen an K., was ihn berechtigen könnte, einen Namen zu tragen. Herkunft, Milieu, Eigenschaften, jede Verbindlichkeit, jede Ableitbarkeit sind der Figur genommen. Was Kafkas geniale Manipulation für Folgen hatte, ist Ihnen bekannt. Die Kafka-Mode hat uns eine ganze Literatur beschert, Erzählungen und Romane haufenweis, in denen die Helden A. und X. und N. heißen, nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, in Städten und Dörfern wohnen, in Ländern, in denen sich niemand zurechtfindet, meist auch der Autor selber nicht, es gibt da nur allgemeine Benennungen, die Stadt, der Fluß, die Behörde, Prozesse, Einkreisungen, die als Parabeln verstanden werden sollen, aber wofür? Sie sind auf alles und jedes applizierbar. Man sollte den Epigonen jedoch nicht ganz unrecht tun, denn etwas dürften einige von ihnen, bewußt oder unbewußt, begriffen haben - nämlich, daß es heute nicht so leicht ist, etwas zu benennen, Namen zu geben, daß das Vertrauen in die naive Namensgebung erschüttert ist, daß hier tatsächlich eine Schwierigkeit liegt, daß es auch den anderen Autoren, die fortfahren, naiv zu benennen, nur selten gelingt, uns einen Namen zu übergeben, eine Gestalt mit einem Namen, der mehr ist als eine Erkennungsmarke - einen, der uns so überzeugt, daß wir ihn annehmen, fraglos, den wir uns merken, uns wiederholen und mit dem wir anfangen, Umgang zu haben.« [3]
 
Literatur als Utopie
»[...] So ist die Literatur, obwohl und sogar weil sie immer ein Sammelsurium von Vergangenem und Vorgefundenem ist, immer das Erhoffte, das Erwünschte, das wir ausstatten aus dem Vorrat nach unserem Verlangen - so ist sie ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen. (...)
Die Literatur aber, die selber nicht zu sagen weiß, was sie ist, die sich nur zu erkennen gibt als ein tausendfacher und mehrtausendjähriger Vorstoß gegen die schlechte Sprache - denn das Leben hat nur eine schlechte Sprache - und die ihm darum ein Utopia der Sprache gegenübersetzt, diese Literatur also, wie eng sie sich auch an die Zeit und ihre schlechte Sprache halten mag, ist zu rühmen wegen ihres verzweiflungsvollen Unterwegssein zu dieser Sprache und nur darum ein Ruhm und eine Hoffnung der Menschen. Ihre vulgärsten und preziösesten Sprachen haben noch teil an einem Sprachtraum; jede Vokabel, jede Syntax, jede Periode, Interpunktion, Metapher und jedes Symbol erfüllt etwas von unserem nie ganz zu verwirklichenden Ausdruckstraum. (...)
Bei Musil kann man diesen Worten 'Utopie', 'utopisch' hie und da begegnen im Zusammenhang mit der Literatur, mit der schriftstellerischen Existenz; er hat die Gedanken nicht ausgeführt, nur das Stichwort gegeben, das ich heute aufzugreifen versuchte. Wenn aber nun die Schreibenden den Mut hätten, sich für utopische Existenzen zu erklären, dann brauchten sie nicht mehr jenes Land, jenes zweifelhafte Utopia anzunehmen - (...).
Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen. (...) Aber Nachahmung eben dieser von uns erahnten Sprache, die wir nicht ganz in unseren Besitz bringen können. Wir besitzen sie als Fragment in der Dichtung, konkretisiert in einer Zeile oder einer Szene, und begreifen uns aufatmend darin als zur Sprache gekommen.
Es gilt weiterzuschreiben.«
[Die fünfte, Bachmanns letzte Vorlesung fand am 24. Februar 1960 statt]
       
Rezensionen Tagespresse  
Bachmanns Frankfurter Vorlesungen
Forum-Link Pressespiegel
Joachim Eberhardt: Am Katheder stand eine Dichterin.
     Die erste Poetikdozentur 1959 mit Ingeborg Bachmann. [4]
 
   
LiteraturempfehlungEmpfehlung
Irmela von der Lühe:
"Ich ohne Gewähr. Ingeborg Bachmanns Vorlesungen zur Poetik".
In: Irmela von der Lühe (Hrsgin.): Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahr-
hunderts (= Argument-Sonderband 92, Literatur im historischen Prozeß. Neue Folge 5),
Berlin 1982, S. 106-131.
   
Frankfurter Poetikvorlesungen Ingeborg Bachmann
Frankfurter Vorlesungen
Probleme zeitgenössischer Dichtung.
Broschiert - 104 Seiten - Piper Verlag (= Serie Piper), München 2000.
ISBN: 3492102050
- Die Frankfurter Poetikvorlesungen sind derzeit nicht im Handel erhältlich -


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Information zu dieser Seite:
 
[1] Das Foto zeigt Ingeborg Bachmann am 17. März 1959 bei der Preisverleihung des "Hörspielpreises der Kriegsblinden" im
  Bundeshaus in Bonn, © DPA.
[2] Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hrsg.): Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 4: Essays, Reden,
  Vermischte Schriften. © Piper Verlag, München, Zürich 1978, S. 381ff. (Anmerkungen); Frankfurter Vorlesungen, S. 182 - 271.
[3] Die genauen Verlagsdaten der dritten und der vierten Vorlesung sind laut Angaben der Herausgeberinnen der Bachmann
  Werkausgabe nicht mehr festzustellen.
[4] Joachim Eberhardt: Am Katheder stand eine Dichterin. Die erste Poetikdozentur 1959 mit Ingeborg Bachmann. In:
  Uni-Report. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Heft 4, Publikationsdatum: 14.08.2003.
    © Ricarda Berg, erstellt: August 1999, letzte Änderung: 01.03.2024
http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg