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Leseprobe...
Ulrike Draesner

Schöne Frauen lesen

Über Ingeborg Bachmann, Annette von Droste-Hülshoff, Friederike Mayröcker, Virginia Woolf u.v.a.
  Scheinwerfer Autorschaft

Der Das dreißigste Jahr eröffnende Text, Jugend in einer österreichischen Stadt, eine biographisch-religiös überformte Glosse, handelt nicht vom Schreiben, doch taucht es gegen Ende auf in einem Bild:
Wo die Stadt aufhört [...] kann man sich niederlassen
einen Augenblick und das Gesicht in die Hände geben.
Man weiß dann, daß alles war, wie es war, daß alles ist,
wie es ist, und verzichtet, einen Grund zu suchen für alles.
Wer das Gesicht in die Hände legt, spricht durch die Finger. Zunächst sind es die eigenen Hände, und man versucht, indem man schreibt, Mund und Mimik durch sie hindurch in Schrift zu verwandeln. Diese legt man in fremde Hände. Man schlägt nicht die Hände vor das Gesicht, sondern gibt das Gesicht in die Hände - anderer. Eine Gabe, ein Risiko auf beiden Seiten, ein Stück Verantwortung, gerade auch in Bezug auf die Spannung zwischen einem Lebensbogen und uns. Zwischen Rollenspiel, Frauen- und Autorinnenrollen, und dabei liegt die Betonung nicht auf dem Geschlecht, sondern auf dem Beruf, zwischen Außenbild und Insichsein. Und der Absonderung einer Figur, die Fiktion wird, obwohl und während man sie lebt. [...]

Ein Fragezeichen öffnet den Satz

Ich erinnere mich an eine Frage aus der Schulzeit, die keine:r im Kurs beantworten konnte. Es war eine Mathematikfrage, keine Rätselfrage, nicht einmal die Frage nach einem Geheimnis, sondern eine über unser Wissen hinaus. Was macht es mit Toten, dass wir sie konservieren, sie immer wieder anhören, aufzeichnen, sehen?
Vor Kurzem las ich: Am Ende sind die toten Dichter nur mehr Fragezeichen.
Schöne Aussicht? Besser, als vergessen oder ganz festgeschrieben zu sein? Wir erinnern uns an Ingeborg Bachmann, nicht Frau Bachmann, speisen ein Konstrukt in Erinnerung ein und verändern es mit uns und uns an ihm. Fragezeichen zu sein ist eine gute Vorstellung: ein Zeichen im Satz, im Satzbau, im Sprachgefüge. Eine Schlange über einem Punkt. Etwas, das den Satz öffnet und hebt.
Für uns als Leser:innen aber ist das Autorenbild, das wir uns machen, etwa von Bachmann, wichtig - über uns wirft es seinen Schatten, in uns wirft es sich zurück. Es enthält auch etwas von unserer Phantasie über uns selbst und unser Leben. Was bedeutet es, zu schreiben? Zu lesen? Welche Möglichkeiten räumen wir anderen - und damit auch uns ein? Wie möblieren wir den Kopf?
Dort, wo Möbel Möbel sind, möbilieren wir nicht mehr, dort haben wir inzwischen raffiniertere Vorstellungen vom Zusammenfügen von Raum, Ding und uns selbst. Ausgerechnet mit unseren Köpfen aber verfahren wir lieblos. Stellen sie voll mit festgefahrenen Ideen, denken in engen Kategorien. Spüren schmerzlich, wie wir darin eingeschachtelt werden, von anderen. Und tun es selbst: an ihnen, und dann auch an uns.
Bachmann versuchte, die Schale, in die sie geschlüpft war, zu sprengen. Eben dieser Anstrengung ist es zu verdanken, dass sie nicht zum Mythos erstarrte. Statt sich feststellen zu lassen, bleibt sie Teil einer umstrittenen Geschichte, denn die ständige Herrichtung der Welt lässt sich in ihrer Figur nicht verbergen. Während man in der Erzählstimme Belehrung und ein stetes "höre mir zu, ich sage die Wahrheit" spürt, taumelt die Autoren-Figur, die Regie. Da glaubt jemand an einen Kern, an Wahrheit, Schuld, Vernichtung: im Erzählen aber misslingt diese Figuration. Die Injektion einer reinigenden mythischen Essenz in die Wirklichkeit funktioniert nicht, im Gegenteil: Schmutz, Lebensstoff, Abfall erscheinen.
Darin wird Bachmanns Werk interessant. Der Plan misslingt, etwas "dreht" durch. Und das Lebens-Kunst-Spiel, die Inszenierung der Autoren-Figur im Außenbereich, verschwindet vor den bizarr-echten, ungeschützten Bewegungen der fiktiven Schreibfigur.
Das Gesicht in die Hände gegeben. Cousine Kath, flüsternd, im Kirschbaum versteckt. Ein Stück Sehnsucht nach Geborgenheit drückt sich darin aus. Wir spüren sie im Lesen der Frau, die nicht Mann war, als Frau aber Männer(n) nachspielte. Die sich verschubladete, verlor, aufspannte, einriss, sich am Riemen riss, die Hände ins Gesicht schlug, das Gesicht in die Hände gab, den Kopf senkte, den Boden sah, die eigene Haut.
Seltsame, manchmal schwer erträgliche Buchstaben der Verwischung und des Exhibitionismus, des Spiels, der Koketterie. Das Gesicht in die Hände, die Hände vors Gesicht: aus Scham, Neugier und Lust.
Bachmanns Erzählungen werden so wenig fiktiv, weil sie ein Sprechen über sich selbst bleiben, nur im Modus eines anderen. Sie werden so wenig lebendig, weil sie nicht sprechen über einen anderen, dem man sich hingibt, um abzusehen von sich. Bachmann gibt das Gesicht in die Hände, lugt uns durch die Finger an. Damit spielte sie ein sehr zeitgenössisches Spiel, das Spiel der Aüthentizität, vermittelt über Biographie und Literatur.
Doch das Gesicht in die Hände zu geben ist auch eine Geste der Liebe, der Übergabe. Zu selten fühlen wir, dass Texte und damit Autor:innenbilder, die Leben waren, uns und unsere Lektüre anvertraut sind. Wir dürfen stehen und lauschen, ohne alles verstehen zu müssen.
Schauen wir noch einmal hin. Im Bild von Hand und Gesicht und ihrer Bewegung aufeinander zu ist Schreiben doppelt gezeichnet:
Ich gebe mein Gesicht, das, was ich sehe, erlebe, wahrnehme in meine Hände, um es euch zu sagen.
Und: Ich gebe mein Gesicht, was ich bin, was ich war, was ich gewesen sein darf, in eure Hände, die ihr über mich sprecht, schreibt, mich lest. [1]

Buchvorstellung Autorinnenseite:  Schöne Frauen schreiben
 
Schöne Frauen schreiben
© 2023 Penguin Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
[aktualisierte TB Ausgabe]

© Luchterhand Verlag
München 2007

218 Seiten
ISBN 978-3-328-10964-8
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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[1] Aus dem Essay: "Frau Bachmann und der Schwindel im Erzählen, in: Ulrike Draesner: Schöne Frauen lesen. Über Ingeborg
  Bachmann, Annette von Droste-Hülshoff, Friederike Mayröcker, Virginia Woolf u.v.a., © 2023 Penguin Verlag München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (aktualisierte Taschenbuchausgabe); © Luchterhand Verlag, München 2007.
  Ich danke Ulrike Draesner und dem © 2023 Penguin Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH für die freundliche Genehmigung zur Publikation.
    © Ricarda Berg, erstellt: März 2024, letzte Änderung: 25.04.2024
http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg