| Home |
||
| Index: |
||
| Zeichenerklärung: |
||
| 18. Dezember 2016 | Gnade durch Morphium | |||
| "Winterreise nach Prag" ist eine kleine Studie zu Ingeborg Bachmann und ein erster Eindruck einer großen "Bachmann-Edition". |
||||
| "[...] Als wesentlichen Aspekt bei der Textinterpretation streichen Höller und Larcati Bachmanns Zusammenbruch und Krankheit infolge der Trennung von Max Frisch heraus, die in dieser Ausführlichkeit bisher noch nicht dargestellt wurde (v. a. S. 51-74). Für Bachmann war die Trennung von Frisch lebensentscheidend, sie bezeichnete diese als ihre größte Niederlage und als totalen Zusammenbruch. Angst vor Indiskretion ist hier jedoch völlig unberechtigt, litt doch Bachmann selbst auch daran, sich in ihrer Not an niemanden mehr wenden zu können, in Das Buch Goldmann führt sie vor, dass das Einsperren in Diskretionsgeboten tödlich enden kann. So drängen Bachmanns Werke aus den letzten zehn Jahren ihres Lebens geradezu darauf, „mit ihrem nicht nur fiktionalen kreatürlichen Elend wahrgenommen und verstanden zu werden, mit ihren Schmerzen, die sich der Sprache entziehen wollen und die sie doch zu benennen versuchte, damit man davon weiß.“ (S. 47) Ein Gedicht wie Böhmen liegt am Meer empfand sie daher als Zufall und Geschenk, „seine Entstehung bedeutete für sie das Glück, dennoch und trotzdem und gegen die zunehmende Aussichtlosigkeit ihres Zustandes etwas geschaffen zu haben, das wie aus sich selber zu leben scheint, seinen eigenen künstlerischen Gesetzen folgend, und in dem doch alles enthalten ist, was ihre Wirklichkeit ausmachte.“ (S. 47) Die üblicherweise von der Literaturwissenschaft scheel, wenn nicht sogar als Sakrileg betrachtete Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Zusammenhänge für die Werkgenese ist in Höllers und Larcatis Analyse immer und in jeglicher Hinsicht überzeugend und wie die Autoren selbst unterstreichen „jeder theoretischen Anstrengung wert, denn es geht hier um die Frage der Notwendigkeit der Kunst im Leben.“ (155) So bekannte sich Bachmann selbst in einem Interview zu Goethes Begriff des „Erlebnisgedichtes“, dessen unbedingten Bezug zur Wirklichkeit dieser selbst in seinen Gesprächen mit Eckermann betont hatte: „Alle meine Gedichte sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.“ (S. 146) „Grund und Boden“ – auch im engen geologischen Sinn – können durchaus als Leitvokabeln des theoretischen und literarischen Werks der Bachmann angesehen werden. So erfolgte Bachmanns schriftstellerische Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit in den Jahren der Entstehung des Winterreise-Zyklus in „Begriffen der Erdgeschichte“ (S. 80); im Wüstenbuch (1964/65), im Buch Franza (1965/66) und in den persönlichen Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit wendet sie sich der Sprache der Geologie zu und begreift die neue „geologische Poetik“ wörtlich als Hilfswissenschaft. So ist das Zugrundegehen in Böhmen liegt am Meer nicht als Untergang zu verstehen, sondern als ein „Auf-den-Grund-Kommen“ und ein „Begreifen des Grunds der Dinge“ (S. 9, A. 1): „Zugrund – das heisst zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. / Von Grund auf weiss ich jetzt, und ich bin unverloren.“ (S. 17)" | ||||
| Helmut Böttiger [1] | ||||
| 26. Dezember 2016 | Ich grenz noch an ein Wort | |||
| Hans Höller und Arturo Larcati über Ingeborg Bachmanns Reise nach Prag im kalten Jänner 1964. Die Spurensuche ermöglicht eine Annäherung an das lyrische Spätwerk der Dichterin. |
||||
| Es gibt sie, Bücher, die einem vom ersten Satz an sympathisch sind. „Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag“ ist ein solches, geschrieben von zwei germanistischen Gelehrten, die nicht nur kenntnisreich, sondern auch einfühlsam schreiben können, was keine Selbstverständlichkeit ist. Hans Höller und Arturo Larcati haben sich vor geraumer Zeit vorgenommen, eine Spur aufzunehmen. Ingeborg Bachmann und ihr um erhebliche Jahre jüngerer Begleiter, Adolf Opel, damals Publizist und Kritiker, später Theaterschriftsteller, Drehbuchautor und Herausgeber der Schriften von Adolf und Lina Loos, haben sie gelegt – nach Prag im Jänner 1964 und zu einem kleinen Gedichtkorpus, zu dem auch eines ihrer bekanntesten Gedichte – unsere Autoren meinen sogar: ihr bestes – gehört: „Böhmen liegt am Meer“. Eine Prag- und Shakespeare-Hommage, zudem für Bachmann damals ein Lebensanker in ihrer schweren Krise nach der Trennung von Max Frisch: „Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, / ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr“ – ein Rätselwort, das auch den Bildkünstler Anselm Kiefer umgetrieben hat, wie dieses Buch dokumentiert. Überhaupt ermöglicht Höllers und Larcatis Annäherung an das lyrische Spätwerk Bachmanns, das sie in sieben übersichtlich strukturierten Kapiteln in seinem biografischen Zusammenhang vorstellen, auch dem wenig eingeweihten Leser, das „Erlebnis“ dieses siebenteiligen Zyklus zu erschließen. Eingangs kommentieren sie die Gedichte „Enigma“, „Prag Jänner 64“, „Böhmen liegt am Meer“, „Wenzelsplatz“, „Jüdischer Friedhof“, „Poliklinik Prag“ und „Heimkehr über Prag“ ebenso behutsam wie informativ, um dann zu Interpretationen überzugehen. Genauer gesagt: Sie liefern das poetische und lebensgeschichtliche Material, um es dann mit ihrer Deutung dieser Gedichte zu verbinden. [...] Das Nachwort sollte die literaturwissenschaftliche Zunft auf ihre Fahnen schreiben, wenn sie sich wieder einmal fragen sollte, wie es um ihre „gesellschaftliche Relevanz“ bestellt sei. „Die Frage nach der (lang von ihr verpönten, Anm.) Beziehung von Leben und Werk ist jeder theoretischen Anstrengung wert, denn es geht hier um die Frage der Notwendigkeit der Kunst im Leben.“ Auch dokumentarisch leistet dieses Buch Wichtiges, womit ich nicht nur die Kommentare meine und das aufbereitete Material, sondern ein ganzes Kapitel, das siebente, die Art betreffend, wie „Böhmen liegt am Meer“ aufgenommen worden ist, dieses ikonische Gedicht mit der verwirrenden Titelzeile aus dem „Wintermärchen“. Wir erfahren nicht nur, dass Bachmann selbst zu ihm „stand“ wie zu keinem ihrer anderen Gedichte, sondern lesen von Thomas Bernhards Arbeit mit Bachmanns Motiven in der Auslöschung, von Anselm Kiefers erwähnter Faszination von dieser Dichtung, von Thomas Larchers Vertonung und von Gertraude Stügers Installation zu diesem Gedicht. [...] Solange Germanisten solche Bücher zu schreiben verstehen, braucht es uns um die Zukunft der Zunft nicht bange zu sein. |
||||
| Rüdiger Görner [2] | ||||
| 10. September 2018 | Ein Glücksfall für die Leser | |||
| „Böhmen liegt am Meer" gilt als das schönste Gedicht von Ingeborg Bachmann. Erst seit Kurzem weiß man, dass es Teil eines Zyklus ist. |
||||
| [...]
Ihre Texte, ihr Leben, ihr Tod: An Ingeborg Bachmann fasziniert alles, ihre Person und ihr Werk begeistern Leser bis heute. Literaturwissenschaftler suchen nach jedem noch so kleinen Puzzleteil ihrer Biografie. Jeder kennt Gedichte oder zumindest Zitate der Autorin, und sei es nur: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Der Satz stammt aus einer Dankesrede, welche die Schriftstellerin im Jahr 1959 hielt. Bachmann [...] war damals, fünf Jahre nachdem sie der Spiegel auf dem Titel zeigte, ein literarischer Superstar. Doch es folgten dunkle Jahre. Die Zeit in Berlin ab 1963 war für Ingeborg Bachmann schwer. Die komplizierte Liebesbeziehung zu Max Frisch war endgültig zerbrochen. Die Trennung war für die Autorin ein tiefer Wendepunkt, und sie erkrankte schwer. Sie war mehrfach in Krankenhäusern und versuchte von ihrer Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit loszukommen. "Tatsache ist, dass ich tödlich verletzt bin und dass diese Trennung die größte Niederlage meines Lebens bedeutet", schrieb Bachmann in einem Brief an den Komponisten Hans Werner Henze. In dieser Zeit tauchte ein junger Wiener in Berlin und ihrem Leben auf: Adolf Opel. Der 28-jährige Schriftsteller und Filmemacher lud sie zu einer Reise nach Prag ein, sie nahm an – das Duo wird zweimal in die Stadt fahren und später auch nach Athen, nach Ägypten und in den Sudan. [...] Bachmann erlebte die Reisen als "ein Wunder", sie fühle sich "gerettet". In einem Brief an Opel notierte sie, sie habe dadurch endlich wieder zu schreiben und zu leben begonnen. Auf der Prag-Reise entstand das Gedicht Böhmen liegt am Meer, für viele ihr schönstes lyrisches Werk und für sie selbst ein "Glücksfall". Sie könne gar nicht glauben, dass sie es selbst geschrieben habe, meinte sie einmal. [..] Die Autorin bezeichnete das Gedicht als geistige Heimkehr: "Wie ich nach Prag gekommen bin, habe ich gewusst, doch Shakespeare hat recht: Böhmen liegt am Meer." [...] Das Gedicht ist aber noch viel mehr als ein Stück, das für sich allein steht. Das beschreiben die Bachmann-Forscher Hans Höller und Arturo Larcati. In dem im Jahr 2016 erschienenen Buch Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag argumentieren sie, dass Böhmen liegt am Meer zu einem siebenteiligen Lyrikzyklus gehört, der lange Zeit unbemerkt blieb. [...] Warum es zuvor keinen Hinweis darauf gab, dass das Gedicht Teil eines Zyklus ist? Höller und Larcati meinen, es könne an der Autorin selbst gelegen haben. Bachmann wollte, [...] nicht mehr als reine Lyrikerin gelten, sie behauptete sogar einmal, sie habe in den letzten Jahren nur noch ein Gedicht geschrieben, eben Böhmen liegt am Meer. [...] |
||||
| Florian Gasser [3] |
| Information zu dieser Seite: | Zeichenerklärung: |
|
| [1] | © Süddeutsche Zeitung, Autor: Helmut Böttiger, 18.12.2016, |
|
| [2] | Rüdiger Görner, Die Presse - 26.12.2016, |
|
| [3] | © Die Zeit, Beitrag: Florian Gasser; |
|
| © Ricarda Berg, erstellt:
Oktober 2025, letzte Änderung: 27.10.2025 http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg |
||
| Home | Ingeborg Bachmann Forum | Leseproben-Index | Artikel & Essays | Top |