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Ingeborg Bachmann hat für das individuelle Ende ihrer Kindheit
den "Anschluss" Österreichs als entscheidendes Erlebnis
genannt, für das kollektive Ende der Kindheit dieser Generation findet
sie in dieser Erzählung das Bild vom Spiel in den Ruinen und die
Taubheit der Kinder, wenn sie noch Kinder gerufen werden. Und selbst für
das Himmel-und-Hölle-Spiel, das am Beginn der Erzählung den
ohnehin schon sehr begrenzten Spielraum der Kinder markiert, haben sie
nun kein Interesse mehr, weil ihnen zu kalt ist. Und diese Kälte
ist körperlich und emotional spürbar.
Als pure Ironie mag es erscheinen, wenn Ingeborg Bachmann die Bomben als
feurige Christbäume beschreibt. Denn sie verheißen weder Wärme
noch bringen sie den versprochenen Frieden. Diese Ironie durchzieht ihre
gesamte Erzählung, denn sie zerstört an vielen Stellen die Vorstellung
von einer heilen und glücklichen Kindheit. Die Sehnsucht nach einer
Heimkehr in das Haus einer geborgenen Kindheit, in eine Familie wird in
ihr Gegenteil verkehrt, erhofft wird der Ausbruch und die Flucht. In einem
Interview betont Ingeborg Bachmann, dass Jugend in einer österreichischen
Stadt keine autobiographische Geschichte sei:
»Ich wollte vielmehr mit Hilfe von Erinnerungsaufnahmen, die zwangsläufig
die meinen sein müssen, in diese Hohlwelt gehen, die die Welt für
Kinder ist, "Kinder", ein Plural, ein anonymer, und allen bekannter
Ruf, wir waren ja Kinder einmal, wir haben zu diesem Orden gehört,
in dem unsre kleinen Eigenschaften und Merkmale nicht gefragt waren, in
der wir keine Namen hatten, sondern nur eins waren, nämlich 'Kinder',
eine Zeit, in der wir keine Zeit empfunden haben, ja nicht einmal Räume
mit anderen Räumen in Verbindung bringen konnten. Es ist für
mich das Gegenstück zu einer autobiographischen Skizze, sogar die
Vernichtung dieser kleinen Person Kind. (...) Das Ich tritt heraus aus
dem Spiel, es decouvriert das Spiel als Spiel, es hat die Unschuld dieser
Bewegungen verloren.«
Obwohl Ingeborg Bachmann in einer protestantischen Familie aufwächst,
besucht sie nach der Volksschule und dem Bundesrealgymnasium die "Oberschule
für Mädchen" in der Ursulinengasse 5, die während
der NS-Herrschaft das Mädchengymnasium der Ursulinen abgelöst
hat, und schließt sie am 2. Februar 1944 mit der Matura ab:
»Und eines Tages stellt den Kindern niemand mehr ein Zeugnis aus,
und sie können gehen. Sie werden aufgefordert, ins Leben zu treten.«
[...]
In ihrem Versuch einer Autobiographie heißt es:
»Musil sagt zu dem Ort etwas wie "kein Ort, wo man gewöhnlich
zur Welt kommt".« Und in einem Breif an den Freund Uwe Johnson
vom 25. Juli 1970 bekennt Ingeborg Bachmann: »Man müßte
überhaupt ein Fremder sein, um einen Ort wie Kl(agenfurt) länger
als eine Stunde erträglich zu finden, oder immer hier leben, vor
allem dürfte man nicht hier aufgewachsen sein und ich sein und dann
auch noch wiederkommen.«
Ingeborg Bachmann stellt also ihrer Geburtsstadt kein besonders gutes
Zeugnis aus, sie ist froh, als sie im Herbst 1945 die Stadt verlassen
kann, ihrem »Fernweh« endlich nachgehen kann. Sie wird aber
zeitlebens immer wieder Besuche bei den Eltern machen, die manchmal Wochen
und Monate dauern, wenn sie krank ist, sich erholen will oder keinen Wohnsitz
hat. Auch literarisch kehrt sie mit ihrer letzten Erzählung Drei
Wege zum See, die den Band Simultan (1972) abschließt,
noch einmal nach Klagenfurt zurück. Elisabeth Matrei bekennt in der
Erzählung:
»Daheim war sie nicht in diesem Wald, sie mußte immer wieder
neu anfangen, die Wanderkarten zu lesen, weil sie kein Heimweh kannte
und es nie Heimweh war, das sie nachhause kommen ließ, nichts hatte
sich je verklärt, sondern sie kam zurück, ihres Vaters wegen,
und das war eine Selbstverständlichkeit für sie wie für
Robert.«
Bereits der Titel wendet den Blick weg von der Stadt und ihrer Geschichte,
hin auf die Landschaft rundherum: »Herr Matrei kannte das schon,
daß Elisabeth sich jedes Mal "auslief", wenn sie heimkam,
die Stadt vermied und gleich hinter dem Haus in den Wald ging.«
Im Gegensatz zur "frühen Dunkelhaft" in Klagenfurt zeichnet
Ingeborg Bachmann eine andere Spur ihrer Herkunft in ihre literarische
Landkarte ein. Es sind die positiven Erfahrungen im Grenzland, aus denen
sie ihre utopischen Sehnsuchtsländer konstruiert: »(...) sie
nahm das Dreiländereck ins Aug, dort drüben hätte sie gerne
gelebt (...)« [2]
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