HomeIngeborg Bachmann ForumLeseproben (Index)Kleine BibliothekBibliographieImpressum 
 
Leseproben
Zeichenerklärung:NavigationshilfeNavigationshilfeForum-Link Forum-Seite(n)Externer LinkExterner Link

Leseprobe...
Hans Höller / Arturo Larcati   "Ich werde nie mehr ein Gedicht schreiben. Es gibt nur noch ein Gedicht danach, und das ist «Böhmen liegt am Meer»." Mit «danach» meinte Ingeborg Bachmann 'nach' der Entstehung der Erzählungen von Das dreißigste Jahr (1961). Mehrmals kommt sie in ihrem Gespräch mit Gerda Haller im Juni 1973 in Rom auf «Böhmen liegt am Meer» zurück. Es ist für sie das Gedicht ihrer «Heimkehr», aber «in einem weiteren» Sinn: "Deswegen hört für mich dort alles auf. Es ist deswegen auch das letzte Gedicht, das ich geschrieben haben."

«Und dieses Gedicht allein macht mir eine große Freude, nicht weil ich es geschrieben habe, nicht ich bin es, es ist jemand anderer. Für micht ist es ein Geschenk und ich habe es nur weitergegeben an alle anderen, die nicht aufgeben zu hoffen auf das Land ihrer Verheißung, auf dieses Land, das sie nicht erreichen werden. Ja, nicht erreichen, aber nicht aufhören werden zu hoffen.»
Wenn sie ein paar Sätze davor sagte, dass sie froh ist, dass sie es geschrieben hat und dass sie zu diesem Gedicht «immer stehen» wird, so ist in dieser Widersprüchlichkeit das Rätsel der literarischen Autorenschaft ausgesprochen. Bachmann kannte die berühmteste Formel dafür, Arthur Rimbauds Wort «Ich ist ein anderer» («Je est un autre») in seinem zweiten 'Seher-Brief'. Es gibt kein anderes Gedicht, in welchem sie als schreibendes Ich mehr gegenwärtig ist, es ist persönlicher als jedes andere noch so ich-bezogene Gedicht. Sie würde auch «nie wieder eines schreiben, weil damit alles gesagt ist».

«das schönste und beste Gedicht [...], das jemals eine Dichterin in unserer Sprache geschrieben hat»

In Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, 1986 erschienen aber schon im Frühjahr 1982 fertiggestellt, kommentiert die Romanfigur Franz-Josef Murau Gedichte von Ingeborg Bachmann. Murau lebt in Rom, steht im freundschaftlichen Umgang mit der Dichterin, er sei «nicht eigentlich Schriftsteller», wie er zu seinem Freund und Schüler Gambetti sagt, «sondern nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen,[...]. Eine Art literarischer Realitätenvermittler». In Bernhards Roman wird Ingeborg Bachmann nicht mit ihrem Namen genannt, sie ist im hintersinnig gewählten Namenszeichen «Maria» mitzudenken. Auch der Titel von Muraus liebsten Gedicht, «Böhmen liegt am Meer», kommt nicht vor, er nennt es «das sogenannte böhmische, das inzwischen weltberühmt geworden ist und sicher eines der besten, gleichzeitig schönsten Gedichte unserer Literatur ist«.
Im Gespräch mit Maria, erinnert er sich, habe er gesagt, "du hast jetzt mit diesem Gedicht das schönste und beste Gedicht geschrieben, das jemals eine Dichterin unserer Sprache geschrieben hat", das sei «die Wahrheit, die auch die übrige Welt jetzt längst zur Kenntnis genommen hat».
Muraus Begründung des besonderen Rangs der Gedichte Marias gibt uns eine Idee von dem, was er bzw. sein Autor unter 'literarischer Realitätenvermittlung' versteht:
Ich habe die Gedichte Marias immer geliebt, weil sie so österreichisch, gleichzeitig aber so von der ganzen Welt und von der Umwelt dieser Welt durchdrungen sind, wie keine zweiten. Und weil sie die inteligenteste Dichterin geschrieben hat, die wir jemals gehabt haben, alle anderen in der Geschichte eingeschlossen. Völlig antisentimental und klar und haben den Wert der Goetheschen Gedichte und da genau jener Goethischen Gedichte, die ich am höchsten einschätze.
In dieser Einschätzung, auch wenn sie von einem «Übertreibungskünstler» stammt, steckt ebenso wie im Begriff des 'literarischen Realitätenvermittlers' ein ungewöhnliches literaturtheoretisches Wissen. Wahrscheinlich hätte Bernhard, wenn die von ihm gewünschte Edition von Bachmann-Gedichten zustande gekommen wäre, in seinem Nachwort auf die Vermittlung des Österreichischen mit der Welt hineingewiesen und darin deren weltliterarische Bedeutung gesehen. Er hatte in einem Brief vom 22. Mai 1982 an seinen Verlag den Wunsch geäußert, dass er Gedichte «der Ingeborg Bachmann» für einen Band der Bibliothek Suhrkamp "zusammenstellen" möchte, aber Klaus Piper gab dafür die Rechte nicht her, so dass dieses Vorhaben nicht zustande kam.
Dass Franz-Josef Murau im Gespräch über Bachmanns Gedichte Goethe ins Spiel brachte, zeigt die ungewöhnliche literaturhistorische Professionalität des Urteils, welche Murau von Thomas Bernhard übertragen bekam. Mit seinem Goethe-Vergleich hat er Bachmanns dichterisches Selbstverständnis erraten. Als ihr 1965, es war die Zeit nicht lange nach der Fertigstellung des 'Böhmischen Gedichts', ein Journalist die Goethe'sche Bestimmung des «Gelegenheitsgedichts» zitierte, sah sie sich darin «genau» verstanden: «Die Welt ist groß und reich und das Leben so mannigfaltig», liest er der Autorin aus Goethes Gespräch mit Eckermann vom September 1823 vor, «daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. [...] Alle meine Gedichte sind durch die Wirklichkeit angeregt und haen darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.» Bachmann, die sich sonst in Interviews zu journalistischen Einschätzungen eher reserviert verhielt, stimmte nicht nur zu - "Ja, als Gelegenheitsgedichte" verstehe sie ihre Gedichte, "genau in diesem Sinn" -, sondern sie erinnerte den Journalisten sogar an ihre Frankfurter Poetik-Vorlesungen, wo sie «in einem ähnlichen Zusammenhang geschrieben» habe, dass «eben nichts in der Luft» liege. «Grund und Boden», von diesem Leitvokabeln ihres theoretischen und literarischen Werks dürfte sie sich in Goethes Bestimmung des «Gelegenheitsgedichts» auf besondere Weise angesprochen gefühlt haben. [1]
Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag

Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag
Piper Verlag
München, Berlin, Zürich 2016
176 Seiten
EAN 978-3-492-05809-4
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
   
Buchvorstellung: Forum-Link Neuerscheinungen

Information zu dieser Seite: Zeichenerklärung:NavigationshilfeNavigationshilfeForum-LinkForum-Seite(n)Externer LinkExterner Link
 
[1] Aus dem 7. Kapitel "Zu diesem Gedicht werde ich immer stehen", in:
Hans Höller / Arturo Larcati: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Piper Verlag, München, Berlin 2016, S. 143 - 146.
  Ich danke den Herausgebern sowie dem Piper-Verlag für die freundliche Unterstützung des Ingeborg-Bachmann-Forums sowie der Genehmingung zur Publikation der hier veröffentlichten Leseprobe.
    © Ricarda Berg, erstellt: Mai 2025, letzte Änderung: 15.05.2025
http://www.ingeborg-bachmann-forum.de - E-Mail: Ricarda Berg