Arturo Larcati
Ingeborg Bachmanns Poetik
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Dass
Ingeborg Bachmann der frühen Nachkriegsliteratur einen nicht geringen
Tribut zollt, wird etwa in dem Gedicht Keine Delikatessen
erkennbar, das als eine Art Summa ihrer Schreibauffassung gilt.
Das durch das Leiden gezeichnete Ich, das mit wenigen, aber wichtigen
Worten wie "Hunger", "Schande", "Tränen
und Finsternis" das "Einsehen gelernt" hat, bildet hier
die zentrale Figur einer Rhetorik, die auf die Rechtfertigung der Authentizität
und der Wahrheit als Grundantriebe des Schreibens zielt. Indem dieses
Subjekt dem, was es sagt und schreibt, das Siegel seiner unverwechselbaren
Individualität aufprägt, garantiert es mit seiner Person die
Wahrhaftigkeit seiner Sprache:
»Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.
Es schreibt diesen Satz keiner,
der ihn nicht unterschreibt.«
In dieser Rhetorik gilt der Schmerz als Erkennungsprivileg, der tiefere
Dimensionen der Wirklichkeit zugänglich macht, die ohne diese "schreckliche
und unbegreifliche Auszeichnung" nicht erschlossen werden könnten:
»Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung
empfindlich und insbesondere für die Wahrheit.« Dementsprechend
wird in den Frankfurter Vorlesungen das Prinzip der "ursprüngliche[n],
große[n] Leiderfahrung" bzw. der "Erfahrung als Lehrmeisterin"
inthronisiert. Bachmann verschränkt es mit jenen der Richtung und
der Problemkonstante und setzt es zur Rechtfertigung der Exisistenz als
Schriftstellerin ein. Sie behauptet, dass nur die "Manifestation"
dieser drei Eigenschaften uns veranlasse, "einen Dichter als unausweichlich
zu sehen." Mit anderen Worten: Die Forderung nach einer konsequenten
Richtung und einer klar erkennbaren Problemkonstante ist im Gedankengang
der Vorlesungen von der "Forderung nach persönlicher und künstlerischer
Authentizität eines Autors in der Darstellung von Wirklichkeit"
nicht zu trennen.
Als "motivierende[s] Moment für den Schriftsteller" bestimmt
die als leidvoll empfundene Wirklichkeitswahrnehmung "zunächst
die äußere Struktur eines Werkes, vor allem aber den Umgang
mit der Sprache und den Willen zur Spracherneuerung." Als verinnerlichte
Kategorie, die den Schriftsteller zur Authentizität im künstlerischen
Schaffen und zur sozialen Verantwortung verpflichtet, ist sie also mehr
wert als jede äußere Quelle des Kunstwerkes. Durch diese Aufwertung
des Schmerzes und der Leiderfahrung avancieren der (leidende) Körper
zur letzten Domäne der Authentizität und die Kreatürlichkeit
zum Grundmovens von Literatur: "[...] ich glaube," heißt
es im Fragment [Wozu Gedichte?] aus dem Jahr 1955, "daß
wer die Formeln prägt, auch in sie entrückt mit seinem Atem,
den er als unverlangten Beweis für die Wahrheit dieser Formeln gibt."
Dem Argument des leidgeprüften Subjekts entspricht auf der Objektseite
jenes der Evidenz der Wirklichkeit: Daraus, dass das "viele Elend"
so offensichtlich ist, folgt im Gedicht Keine Delikatessen, dass ein "ungereimtes
Schluchzen" und eine unmittelbar ausgedrückte "Verzweiflung"
genügen, um es darzustellen. Das Argument der Evidenz ist in der
Literatur nach 1945 sehr rekurrent, denn in den ersten Nachkriegsjahren
sind die Traumata und Verletzungen, die der Krieg in den Köpfen der
Menschen hinterlassen hat, noch so stark, dass man glaubt, sie ließen
sich direkt und ohne Umschweife schildern. Darauf beruft sich etwa Wolfgang
Borchert, wenn er in seinem berühmten Manifest (1947)
behauptet:
»Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik
fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten
Gefühl. Die zu Baum Baum sagen und zu Weib Weib sagen und ja sagen
und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.«
[1]
[...]
Das hier anvisierte Ideal einer essentiellen Sprache, in der ein authentisches
und sich selbst durchsichtiges Subjekt die Dinge direkt, ohne Umwege,
nennen und transparent machen kann, bildet nicht nur die gedankliche Achse,
um die sich die Gedichte wie Keine Delikatessen und Ihr Worte
drehen, sondern ist auch das Kriterium, anhand dessen Bachmann Celans
Übergang von den frühen Gedichten zu jenen Sprachgitter (1959)
als positiv beurteilt und als Fortschritt verbucht:
»Aber plötzlich, wegen der strengen Einschränkung, ist
es wieder möglich, etwas zu sagen, sehr direkt, unverschlüsselt.
Es ist dem möglich, der von sich sagt, dass er wirklichkeitswund
und wirklichkeitssuchend mit seinem Dasein zur Sprache geht.« [2]
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